Viel zu viele Menschen sind aufgrund der Gesellschaft erstarrt. Sie leben nicht mehr aus sich selbst, aus ihrem Gefühl heraus; sie leben diktiert von ihrer gesellschaftlichen Position. Sie leben innerhalb der Grenzen der gesellschaftlichen Vorschriften und sind gebunden an Erwartungshaltungen, die ihnen andere oder sie sich selbst aufgezwungen haben. Dadurch erstarren sie und werden sich selbst entfremdet. Sie sind nicht beweglich. Sie biegen sich nicht mit, wenn ihnen etwas zustößt. Sie wehren sich, bis sie brechen.
Dieser Gedankengang brachte mich auf einen neuen Umgang mit dem Menschen, mit seiner Krankheit, seiner Gesundheit, seinem ganzen Funktionieren und Dysfunktionieren. Ein Ansatz zu einer fundamental neuen Denkweise.
Diese bildet die Grundlage für meine Therapie, die über die üblichen Bereiche der Gesundheitspflege weit hinausreicht. Darum geht es in diesem Buch.
Wie kam ich dazu, als Arzt einen anderen Weg einzuschlagen, als den, der mir in meiner Ausbildung gewiesen wurde? Warum wollte ich neue Wege gehen in einem Fach, in dem beinahe alle Kreativität erstickt ist durch sachliche Wissenschaft? Denn so sehe ich die traditionelle Wissenschaft. Da geht es um Kenntnis ohne Gefühl, nur aus dem Wissen heraus.
Kreativer Umgang mit Wissen, gepaart mit Gefühl, schien mir der Ausweg zu sein. Eigentlich denke ich nicht, dass es eine Wahl war. Es erwuchs ganz natürlich aus meiner Art, aus meinen Wahrnehmungen, aus all den Eindrücken, die man im Laufe der Jahre aufnimmt, als Mensch, als Arzt, als Beobachter seiner Umgebung.
Vor neunzehn Jahren übernahm ich meine gesellschaftliche Verpflichtung als Amtsarzt, als Kontrollarzt. In der Fachsprache ein »Versicherungsarzt«. Es war außergewöhnlich, so jung als Kontrollarzt zu beginnen. Meine Kollegen waren ältere Spezialisten, die mit diesem Posten ihre letzten Arbeitsjahre füllten. Sie hatten genug gesehen in ihrem Leben, genug Patienten behandelt, genug über Krankheitsfälle nachgedacht. Als Kontrollarzt hat man eine besondere Funktion: nicht im medizinischen Sinne fürsorgend, sondern im Sinne der herrschenden Machtverhältnisse polizeilich überwachend. Ich sah darin jedoch ein ganz anderes Fachgebiet. Einen großen Vorteil entdeckte ich für mich als junger Arzt in dem Umstand, dass ich ausschließlich mit dem Erstellen von Diagnosen zu tun hatte, mit meinen Augen, mit meinen Händen, meinen Ohren und vielleicht noch einem Stethoskop und einem Reflexhammer als einzigen Hilfsmitteln. Damit musste ich so schnell wie möglich zu einer Diagnose kommen.
Als Kontrollarzt wird man auch nicht abgelenkt durch das Erwägen von Therapien. Das liegt nicht im Rahmen der Befugnisse. Therapie fällt unter den behandelnden Sektor. So sah ich über Jahre hinweg in der Sprechstunde zwischen vierzig bis sechzig Menschen pro Tag. Wie gelangt man unter solchen Umständen so schnell wie möglich zu einer Diagnose? Wie stellt man fest, ob sie krank sind oder nicht? Diese Fragen stellte ich mir ununterbrochen; diese Fragen erörterte ich für mich auch im Zusammenhang mit ihren Arbeitsbedingungen, ihrer sozialen Stellung und ihrer Art von Beschwerden.
Gerade diese Kombination fesselte mich, denn eine Hausfrau mit Grippe bleibt auf ihrem Posten, vielleicht mit niedrigerem Einsatz, aber sie hält durch, ohne Folgen für die Gesellschaft, ohne Folgen für eine Rente, ohne Folgen für eine Fabrik, die weiterproduzieren muss.
So lernte ich schnell zu lesen, was die Menschen bewegte. Ich sah, warum sie bei ihrer Arbeit nicht mehr funktionierten. Ich wollte wissen, was für eine Arbeit das war, bei welcher der eine mit Grippe zu Hause blieb, der andere aus Übermüdung und noch ein anderer mit Rückenschmerzen. Dies, während gleichzeitig andere Menschen mit denselben Beschwerden bei anderer Arbeit weitermachten, ohne Neigung zu unterbrechen. Da musste irgendwo eine Verbindung bestehen zwischen ihm und seiner sozialen Umgebung: seiner Familie, dem Umbau zu Hause oder vielleicht mit dem Kursus am Wochenende oder den Abenden unter der Woche. Es dauerte nicht lange, bis ich solche Zusammenhänge sah und durchschaute.