Vom medizinischen Standpunkt aus fielen mir allerdings noch viele andere Dinge auf. Oft kamen Menschen, die schon alle Routineuntersuchungen hinter sich hatten und sich weiterhin über Müdigkeit und schlechtes Funktionieren bei ihrer Arbeit beklagten, die sie doch jahrelang problemlos bewältigt hatten. Plötzlich ging es nicht mehr. Alle möglichen klinisch-chemischen, röntgenologischen und übrigen Untersuchungen ergaben den Befund: »Nichts zu finden: Sie sind nicht krank; Sie sind ein Simulant…; es wird wohl psychisch sein.«

Ich fand jedoch auf den ersten Blick keine Gründe für psychische Beschwerden. Das Familienleben war harmonisch, die Arbeit war sinnvoll und brachte Freude und Erfolg mit sich. Und doch schaffte man es nicht. Nach zwei Jahren kam solch ein Mensch dann zurück in das Sprechzimmer. Aus den Beschwerden ohne Grund hatte sich mittlerweile ein Krankheitsbild geformt: Da wurde ein bösartiger Lungentumor festgestellt. Jetzt hatte der Patient das Recht, zu Hause zu bleiben, nicht mehr zu arbeiten, krank zu sein. Jetzt wurde ein medizinischer Stempel auf diesen Menschen gedrückt, so dass die Umwelt das Kranksein endlich erlauben musste.

Ich könnte viele Beispiele aus meiner Zeit als Kontrollarzt anführen. In jenen Jahren versuchte ich, eine Lösung für das Problem zu finden, dass medizinisch noch nicht zu diagnostizieren ist, währenddessen doch schon deutlich eine Störung im Erleben von Freude, Lust und Glück vorliegt. Ich fragte mich: Wie kann ich diese Störungen, diese nicht fassbaren Beschwerden nachweisen, bevor chemische Befunde oder Messgeräte eine Krankheit bestätigen?

Eine große Offenbarung brachten mir die Kenntnisse von Frau Dr. Sickesz über die Wirbelsäule1. Mit Hilfe ihres Systems, der orthomanuellen Heilkunde, kann man schon sehr frühzeitig, lange bevor sich die Beschwerden manifestieren, Veränderungen in der Wirbelsäule und ihrer Beweglichkeit beobachten. Die Wirbelsäule bildet das zentrale Regulierungssystem der Nerven, die, vom Gehirn ausgehend, aus dem Rückenmark zu den Organen führen und somit die Muskeltätigkeit und die Blutgefäße regulieren. Sie regulieren alles, was diese wundersame Fabrik, der menschliche Körper – mit Ausnahme des hormonalen Systems – benötigt.

Mit dem Studieren der ganzen Wirbelsäule und des Beckens, auf das sie sich stützt, konnte im Diagnostizieren mit den Augen und mit den Händen ein großer Vorsprung erreicht werden. Als besonders hilfreich erwies sich das vor allem bei demjenigen Patienten, der ohne deutlich sichtbare, klinisch-chemische oder röntgenologische Abweichungen kam, wohl aber Beschwerden hatte. Ich konnte anhand von einfachen Bewegungsprüfungen mit meinen Augen und meinen Fingern eine Behinderung im Funktionieren der Wirbelsäule feststellen. Jede Lage eines Wirbels ist mit Hilfe der Neuroanatomie sofort feststellbar und interpretierbar, so dass es bei einer Blockade in der Wirbelsäule nicht schwierig ist vorauszusehen, in welchem Bereich des restlichen Körpers Störungen entstehen können. Das war ein wesentlicher Erkenntnisschritt.

Dennoch blieb ich mit Fragen sitzen. Ich stellte fest, dass es viele Menschen gab, die schon länger in ihrer Wirbelsäule eine Blockade hatten, die aber trotzdem im entsprechenden Bereich schmerzfrei waren. Manchmal kamen sie dann doch noch Jahre später mit Beschwerden, die auf eben diese Blockierung zurückzuführen waren.

Es musste also noch andere Faktoren geben, die zur Manifestierung einer Beschwerde führen, nicht nur ein Trauma, wie z.B. ein Sturz von der Treppe. So meine Beobachtung. Auf diese Weise stieß ich auf die Psyche, die Psyche des einmaligen Menschen. Der eine Mensch hat schon in jungen Jahren eine Blockierung und wird problemlos achtzig Jahre alt, während bei einem anderen unmittelbar bei der Blockierung Beschwerden auftreten. Da musste also mehr mitspielen, als nur eine mechanische Veränderung im Bewegungsapparat!

Erkenntnisse aus der Psychomotorik, d.h. Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen mentaler Aktivität und Muskelarbeit, aus verschiedenen Disziplinen zusammengetragen, halfen mir im frühzeitigen Erkennen von mangelhaftem Funktionieren weiter. Auf die Frage, warum Menschen Beschwerden haben, warum sie Schmerzen haben, warum die Verschiedenartigkeit und Vielfalt von Schmerzen, hatte ich immer noch keine Antwort. Da musste also etwas nur ihm Eigenes im Menschen zu finden sein, das, wenn eine sichtbare Abweichung vorlag, in der Zukunft zu einer Beschwerde führen konnte.

Alle diese Beobachtungen ließen mich zu der Überzeugung gelangen, dass in jedem Menschen etwas Einmaliges liegen muss. Nicht starr und unbeweglich, sondern bewegend in der Zeit. Heute so und morgen anders.

Vor etwa 17 Jahren ist es mir geglückt, eine gemeinsame Basis für all die verschiedenen Verhaltensmechanismen zu finden. Ich war imstande zu formulieren, welche Triebkräfte es sind, die im einmaligen Menschen arbeiten, die ihm aber doch erlauben, seine individuelle Freiheit zu bewahren; schließlich ist er ja einmalig in seinem Körperbau und seiner Veranlagung. Von nun an konnte ich kranken und gesunden Menschen auf eine neue Weise begegnen. Mir wurde deutlich, wo es haperte, lange bevor medizinische Untersuchungen etwas feststellen konnten. Ich konnte das Krankheitsbild erkennen, bevor der Patient imstande war, seine Beschwerden in Worte zu fassen.